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Warum die aktuellen Angriffe auf das Streikrecht vor allem Wahlkampfgetöse sind

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Ver.di-Streik bei der Hamburger Hochbahn AG und den Verkehrsbetrieben Hamburg-Holstein (1.3.2024). Foto: IMAGO / Horrmann Kislichko GbR

Man kann die Uhr danach stellen: Nimmt ein Arbeitskampf in den Betrieben der sogenannten Daseinsvorsorge länger als ein bis maximal zwei Streiktage in Anspruch, überbieten sich staatstragende Journalist*innen und konservative Politiker*innen mit Forderungen nach einer Begrenzung des Streikrechts. Weil im Frühjahr 2024 mehr oder weniger gleichzeitig der öffentliche Personennahverkehr, die Bahn und der Flugbetrieb bestreikt wird, werden derlei Ideen derzeit natürlich mit besonders viel Verve vorgetragen. Nicht nur die Bildzeitung und die Frankfurter Allgemeine, sondern auch der Bundesverkehrsminister, der Bundeswirtschaftsminister, der FDP-Generalsekretär und allerlei Hinterbänkler*innen fordern seitdem Altbekanntes wie etwa «verpflichtende Schlichtungen, klare Streikfristen und die Möglichkeit, Verhandlungsführer auszutauschen». Und weil der bundespolitische Diskurs mittlerweile so verroht ist, dass man mit derart kleinteilig-technischen Vorschlägen bei den eigenen Wähler*innen gar nicht mehr richtig punkten kann, will man natürlich auch gleich «über eine generelle Einschränkung des Streikrechts in sensiblen Bereichen sprechen».

Daniel Weidmann ist Fachanwalt für Arbeitsrecht (dka Rechtsanwälte) und dabei vor allem für Betriebsräte und Gewerkschafter*innen tätig.

Derlei Wortmeldungen kennt man bereits aus dem letzten, dem vorletzten und dem vorvorletzten Arbeitskampf bei der Bahn. Und auch bei ÖPNV- und Kita-Streiks werden schnell solche Forderungen laut. Doch obwohl die Kritiker*innen des bestehenden Streikrechts sowohl im jetzigen als auch in den letzten Legislaturperioden des Deutschen Bundestages sicherlich problemlos Mehrheiten für eine sogenannte «Reform» des deutschen Arbeitskampfrechts mobilisieren könnten, bleibt aus juristischer Sicht alles beim Alten: die Arbeitsgerichte schmettern fast alle Anträge der Bahn- und ÖPNV-Arbeitgeber auf Erlass einstweiliger Verfügungen gegen die Arbeitskampfmaßnahmen der EVG, der GDL und der ver.di ab und verweisen achselzuckend auf die Rechtslage.

Als unbedarfter Zeitungsleser mag man das widersprüchlich finden. Die Frage liegt nahe: Wieso wird das Arbeitskampfrecht trotz all dieser Kritik und passender parlamentarischer Mehrheiten nicht einfach so lange gesetzlich geschleift, bis es niemand mehr stört?

Die Antwort auf diese Frage ist in erster Linie politischer Natur: Wenn die Regierungsparteien es tatsächlich wagen wollten, die Axt an die Grundregeln des deutschen Streikrechts zu legen, würden sie alle DGB-Gewerkschaften gegen sich aufbringen, nicht nur die GDL und die ver.di. Die deutschen Gewerkschaften haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten zwar viele Kröten geschluckt, die ihnen die Bundesregierungen hingeworfen haben. Die massive Entmachtung, die mit einer Beschränkung des Streikrechts einherginge, würden sie aber nicht kampflos akzeptieren. Auf einen solchen Konflikt will sich aktuell keine Bundesregierung einlassen. Denn auch wenn die Gewerkschaften heute viel schwächer sind als in ihren goldenen Jahren, wird es sich jede Regierung gut überlegen, bevor sie den jahrzehntealten Klassenkompromiss zwischen Staat, Unternehmen und Gewerkschaften infrage stellt. Schließlich würde sie damit den prekären Konsens gefährden, auf dem die politische Ökonomie der Bundesrepublik bis heute fußt – auch wenn sich die hierbei wirkenden Kräfteverhältnisse im Zuge des neoliberalen Umbaus insbesondere des öffentlichen Sektors bereits stark zu Ungunsten der Gewerkschaften verschoben haben. Dafür wären ganz andere gesellschaftliche Bündniskonstellationen erforderlich als die, die derzeit im Block an der Macht vereint sind. So ein radikaler Bruch mit der herrschenden bundesrepublikanischen Wirtschaftsordnung erscheint angesichts des allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsrucks zwar leider keineswegs mehr als undenkbar. Aber nur wegen einiger Bus- und Bahnstreiktage wird so ein autoritäres Mammutprojekt sicher nicht in Angriff genommen. Die diesbezüglichen Wortmeldungen dürfen daher bis auf weiteres eher als Wahlkampfgetrommel verstanden werden denn als konkrete politische Zielsetzung.

Der juristische Teil der Antwort nimmt sich im Vergleich zu diesen politischen Erwägungen geradezu banal aus: Wer im Sozialkundeunterricht nicht komplett durchgeschlafen hat, weiß, dass hier Grundrechte im Spiel sind, die einfache Bundestagsmehrheiten nicht fürchten müssen. Die in Art 9. Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) verbürgte Koalitionsfreiheit garantiert nach der Interpretation aller deutschen Gerichte ein Recht auf Streik. Grundrechte sind Menschenrechte, sie gelten also für alle Beschäftigten der Bundesrepublik, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, ihrer Stellung in der Arbeitswelt und der Branche, in der sie tätig sind. Daher können sich auch die in der sogenannten «Daseinsvorsorge» bzw. in der «kritischen Infrastruktur» beschäftigten Menschen auf dieses Grundrecht berufen. Davon ausgenommen sind nach der fragwürdigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts  und neuerdings leider auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (BVerfG v. 12. Juni 2018 - 2 BvR 1738/12 u.a.; EGMR v. 14. Dezember 2023 - 59433/18 u.a.) nur Beamtinnen und Beamte (... zu denen vor den Sparprogrammen bei der Bahn früher ja auch viele Lokführer*innen zählten).

Einfach-gesetzliche Beschränkungen des Streikrechts sind wegen des klaren Wortlauts des Art. 9 Abs. 3 GG nicht ohne weiteres möglich, denn «Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.» Auch deswegen hat es der Bundestag in seinen wechselnden Besetzungen seit 1949 tunlichst vermieden, den deutschen Gewerkschaften gesetzliche Streikvorgaben zu machen. Daher besteht ausgerechnet in der sonst so regelungsfreudigen Bundesrepublik bis heute kein kodifiziertes Arbeitskampfrecht. Dies hat die Gerichte allerdings nicht gehindert, den grundrechtlichen Rahmen durch eigene Interpretation auszugestalten und so ein eher restriktives richterrechtliches Arbeitskampfrecht zu schaffen. So wird das bestehende Streikrecht bereits heute durchaus beschränkt – teilweise in höchst fragwürdiger Weise.

Dass diese Beschränkungen keine pauschalen Streikverbote im Bereich der «Daseinsvorsorge» bzw. der «kritischen Infrastruktur» vorsehen, liegt schlicht daran, dass dies selbst nach Auffassung konservativer Richter*innen nicht pauschal erforderlich ist, um übermäßige Beeinträchtigungen Drittbetroffener, also z.B. Einschränkungen der Kinderbetreuung oder des Nahverkehrs zu vermeiden (LAG Hessen v. 7. November 2014 - 9 SaGa 1496/14). Stattdessen prüfen Gerichte jeden Einzelfall und erarbeiten ggf. einen Ausgleich zwischen dem Streikrecht und den Grundrechten Dritter, die vom Arbeitskampf besonders betroffen sind (sog. «praktische Konkordanz»).

Dies hat in verschiedenen Branchen ganz unterschiedliche Folgen: Dort, wo ein Arbeitskampf lebenswichtige Tätigkeiten gefährden würde – etwa im Kreissaal oder in einer Notaufnahme, müssen Gewerkschaften seit jeher Notdienste organisieren und die in diesen Bereichen tätigen Beschäftigten vom Streikaufruf ausnehmen. Das ist im Grundsatz unstrittig und gelebte Gewerkschaftspraxis, auch wenn es wegen der Einzelheiten einer Notdienstregelung freilich regelmäßig heftigen juristischen Streit gibt. Dort, wo keine Lebens- oder Gesundheitsgefahren drohen oder vergleichbare hochrangige Rechtsgüter gefährdet werden, sind die durch einen Streik bedingten Einschränkungen des öffentlichen Lebens aber in der Regel hinzunehmen. Andernfalls würde das Grundrecht auf Streik für die Beschäftigten etwa bei der Bahn, in den Kitas oder bei Müllabfuhr ausgehöhlt. In der Güterabwägung zwischen dem Streikrecht der Beschäftigten und dem berechtigten Interesse der Bevölkerung an einem ungestörten Bahnverkehr o.ä. hat das Streikrecht schon wegen seines Verfassungsrangs in der Regel das größere Gewicht.

Angesichts dieses sorgfältig austarierten Abwägungssystems besteht für die vom FDP-Generalsekretär geforderte «generelle Einschränkung des Streikrechts in sensiblen Bereichen» selbst aus konservativer Jurist*innensicht überhaupt kein Bedarf. Ohne eine Grundgesetzänderung mit der dafür notwendigen Zweidrittelmehrheit im Bundestag käme eine derartige Verbotsregelung aber auch ohnehin nicht infrage. Die übrigen Vorschläge zur gesetzlichen Ausgestaltung des Streikrechts, etwa durch verpflichtende Mindestankündigungsfristen, Schlichtungs-Automatismen und ähnliche prozedurale Vorgaben sind seit vielen Jahren Gegenstand der juristischen Fachdiskussion, bisher ohne Ergebnis. Dies dürfte schon daran liegen, dass sich der «konturenlose Begriff der Daseinsvorsorge» (so Detlef Hensche in Däubler, Arbeitskampfrecht § 18 Rn. 56) weder sinnvoll abstrakt definieren noch durch Aufzählung aller möglicher angeblich besonderer «kritischer» Branchen und Tätigkeiten von weniger bedeutsamen Bereichen der Arbeitswelt abgrenzen lässt. Daher dürften auch die nun wieder laut werdenden Forderungen bald wieder in den Schubladen verschwinden – jedenfalls bis zum nächsten Bahn- oder Flughafenstreik.